Chaim Noll, deutsch-israelischer Schriftsteller und politischer Journalist, hielt im September 2025 auf einer Vortragsreise in Ungarn Reden zum Thema „Antisemitismus in Europa heute”. Noll wurde 1957 in Ost-Berlin geboren. 1984 verließ er die sozialistische DDR und emigrierte 1995 schließlich nach Israel. Als jüdischer Autor zahlreicher Bücher und Artikel in Tageszeitschriften und wissenschaftlichen Medien engagiert sich Noll öffentlich gegen Vorurteile, welche Juden als Bedrohung darstellen. Nolls Publikationen verbinden persönliche Erfahrungen mit tiefgründigen Analysen, um bedenkliche Entwicklungen offenzulegen, so auch im Zuge seiner Vorträge.
Am 15.09.2025 fand im MCC-Zentrum von Nyíregyháza der erste Vortrag vor über 40 Anwesenden zu „Antisemitismus in Europa heute” statt. Zunächst klärte Chaim Noll über die Terminologie auf: Der Begriff „antisemitisch” sei nicht ganz zutreffend, da „Semiten” auch nicht-jüdische Bevölkerungsgruppen einschließt. Präziser sei „antijüdisch”, da es um Vorurteile gegen Juden als Gruppe gehe. Historisch wurde das Judentum als minderwertige Religion gegenüber dem Christentum dargestellt und somit seien die Juden auch als „niedere Rasse” zu sehen gewesen. Dies kategorisierte Noll in die erste der drei Arten des Antisemitismus: Der rassistischen Art. Diese Form verlor nach der Shoah an Bedeutung, da christliche Bibelstellen, die Judenfeindlichkeit schürten, weitgehend entfernt wurden. Zweitens: Den von politisch linker Seite, der auf sozialen Vorurteilen basiert, wie Geldgier oder der erfolgreichen Verwirklichung im Kapitalismus. Die dritte Art des Antisemitismus begründe sich religiös, da im Koran explizit zum Judenhass, simultan auch zur Ablehnung von Christen, aufgerufen wird.
An seine Ausführungen schloss sich eine Diskussionsrunde, die vom Projektkoordinator Dániel Grózner am Deutsch-Ungarischen Institut moderiert wurde. Noll konnte in seiner Antwort auf eine Zuschauerfrage nicht verstehen, wie Viktor Orbán als Antisemit gelten könne. Juden seien in Ungarn deutlich anerkannter als beispielsweise in Deutschland. Bereits bei seiner Ankunft am Budapester Flughafen fiel ihm auf, dass andere Juden unbekümmert ihre traditionellen Trachten offen trügen, ohne damit jedwedes Unbehagen zu erregen. Große Investitionen Israels in Ungarn unterstrichen diese wohlgesonnenen Zustände.
Zu der zweiten Veranstaltung im MCC-Debrecen am 16.09.2025 mit 50 Interessierten vertiefte Noll seine Beobachtungen mit einer geschichtlichen Einführung zu den antiken Wurzeln des Antisemitismus: Im Römischen Reich kritisierte Seneca Juden als schlechte Geschäftsleute, da sie an einem Tag – dem Sabbat – nicht aktiv seien. Auch lehnten Christen und Juden die martialischen Gladiatorenspiele ab, was sie von der sensationslüsternen Gesellschaft abgrenzte. Weiter ging er darauf ein, dass Juden gemäß der Tora die Gesetze der Länder, in denen sie leben, zu respektieren haben. Dies betonte er vor dem Gegensatz, dass Muslime gemäß des Korans überall und immer eigenen Gesetzen – der Scharia – zu folgen haben.
Auf die Publikumsfrage, wie man Antisemitismus begegnen könne, riet Noll zur eigenen Meinungsbildung via hochqualitativer Informationsquellen, wie der Neuen Züricher Zeitung (NZZ). Jeder sei selbst dafür verantwortlich, eine gute Medienkompetenz und ein gutes Urteilsvermögen zu entwickeln. In Debatten sei Mut zur eigenen Meinungsäußerung elementar wichtig, selbst wenn dies zu Konflikten führen könnte. Dies sei auch das, was er an seinen Mitmenschen in Israel besonders schätze, ihren Willen zum offenen Dialog. Weiter herrsche eine große Solidarität untereinander.
Am 18.09.2025 widmete sich Herr Noll auch im MCC-Hauptsitz in Budapest, in der die meisten der Juden Ungarns leben, dem Thema des Antisemitismus. Vor einem 30-Personen-Publikum ging er auf paradoxe Zustände in verschiedenen Ländern ein. Im muslimischen Saudi-Arabien würden Imame, die für Mitgefühl mit Palästinensern einträten, von der Polizei verhaftet. Dies begründete er so, dass sich die bestehenden diplomatischen Beziehungen zu Israel nicht verschlechtern sollten. Zudem sei die palästinensische Hamas eine sunnite Organisation, die teilweise vom schiitischen Iran finanziert werde. Auch innerhalb des Islams gäbe es verschiedene Strömungen, hauptsächlich Sunniten und Schiiten, die sich untereinander spinnefeind seien. Saudi-Arabien sei ein sunnitisch geprägtes Land. Weiter ging Noll auf die paradoxen Praktiken in Deutschland ein. Seiner Ansicht nach kommt es vor, dass antisemitische Äußerungen mit religiösem Hintergrund fälschlicherweise als rechtsextrem eingestuft werden, was es erschwert, das eigentliche Ausmaß des Problems zu erkennen und anzugehen, und lediglich die ohnehin bestehenden gesellschaftlichen Spannungen vertieft.
Professor Dr. Frank-Lothar Kroll, Geschichtsprofessor an der Technischen Universität Chemnitz und Visiting Fellow am MCC moderierte die anschließende Podiumsdiskussion. Auf die Frage, wie die Situation in Deutschland in Israel gesehen würde, erklärte Noll, dass die Anfangsjahre der Merkel-Regierung positiv gesehen wurden. Zunächst gab es Visa-Erleichterungen zwischen beiden Ländern, was wohlwollend honoriert wurde. Die Politik der offenen Grenzen ab 2015 würde allerdings nun nur noch mit Kopfschütteln bedacht werden. Es würde zwar zwischen Deutschen und zugewanderten Migranten unterschieden werden, doch wie das eigene Land derart vor die Wand gefahren würde, dafür habe man nur Unverständnis. „Die Israeils haben mittlerweile eigentlich richtig Mitleid mit den Deutschen”, so Chaim Noll.
Neben den Vorträgen machte sich Chaim Noll auch ein persönliches Bild von dem jüdischen Leben in Ungarn. Er besuchte die Pilgerstätte des Wunderrabbiners Reb Shayele in Bodrogkeresztúr, das Grab des Rabbiner und Zaddik Yetev Lev sowie die Synagogen in Nyíregyháza und Tokaj.